Meine Lieblingsreportagen
Einmal im Monat fragen wir Reporter, die wir selbst gerne lesen, nach ihren persönlichen, aktuellen Lieblingsreportagen. Die vollständige Liste findet ihr bei Krautreporter, mit denen wir die Rubrik führen.
Hier das Archiv bis zum März 2015:

Jana Simon, 1972 in Potsdam geboren, ist Autorin der „Zeit“; ihre Reportagen wurden unter anderem mit dem Axel-Springer-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Simon ist die Enkelin der Schriftstellerin Christa Wolf, einige Gespräche mit ihrer Großmutter veröffentlichte sie in dem Buch „Sei dennoch unverzagt“. Zuletzt erschien der Reportagenband „Das explodierte Ich“.
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The Bridge
Gay Talese · 1964
„The Bridge“ von Gay Talese ist ein Klassiker über den Bau der Verrazano Narrows Bridge, die Brooklyn mit Staten Island verbindet. Das könnte ungeheuer langweilig sein, ist es aber nicht. Denn: „Eine Brücke zu bauen, ist wie ein Krieg“, schreibt Talese. Das Grandiose an dieser Geschichte ist die Art und Weise, wie Talese sie erzählt: als Jahre andauernden Kraftakt und aus allen möglichen Perspektiven – der des Konstrukteurs, des Immobilienmaklers, der Anwohner, der Punks und Pusher (Lehrlinge und Vorarbeiter) und der Eisenmonteure, die zum Teil ihr Leben für die Brücke lassen. Es ist eine moderne Heldengeschichte mit sehr viel Mühe und Zeit recherchiert, was sich meistens lohnt. (Eine deutsche Übersetzung ist in „Reportagen“ erschienen.)
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USA, 20.56 Uhr
Alexander Gorkow · Süddeutsche Zeitung Magazin · 2012
„USA, 20.56 Uhr“, das große Porträt der Band Rammstein. Alexander Gorkow begleitet sie auf einer Tour durch die Vereinigten Staaten, und das Land kommt darin kaum vor. Stattdessen unterhalten sich die Musiker über ihre Sehnsucht nach ihren Frauen und ihren Häusern in Mecklenburg, sie bekommen kluge SMS von ihren intellektuellen Vätern und erzählen Anekdoten aus einem untergegangen Land – eine meiner Liebsten ist die des Keyboarders Flake: „Ich wohnte mal auf der Fehrbelliner Straße 7.“ Und? „Nu halt dich fest: Im selben Haus wohnten Frau Fett und Herr Fleischfresser.“ Gorkows Geschichte erzählt mehr über den Osten als alle Leitartikel der vergangenen Jahre. Ich war bis zu diesem Text kein großer Fan von Rammstein, nun überlege ich es mir noch mal.
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The Holder of Secrets
George Packer · The New Yorker · 2014
George Packer ist für mich einer der besten Porträtschreiber im Augenblick. Er schafft es, wie sonst vielleicht nur die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch, mit Biografien Gesellschaftspanoramen zu entwerfen. Dieser Text über die Dokumentarfilmerin Laura Poitras und ihren Film über Edward Snowden ist exzellent, weil er ein politisch relevantes Thema sehr elegant mit der Beschreibung einer Frau verwebt. Fast nebenbei zeichnet Packer auch ein Bild der Berliner Whistleblower-Szene in ihrer Zerrissenheit zwischen Kreativität, Mut und Paranoia. Herrlich sind die Szenen, in denen Packer mit dem Internetaktivisten Jacob Appelbaum redet, der ihn aus konspirativen Gründen nur in einer Sauna treffen will. Packers Reportage ist aber auch formal höchst spannend. Packer beschreibt die Entstehung eines Films als künstlerischen Prozess, als Ringen um die richtige Form. Am Ende geht es um die Frage: Wie erzählt man eine Geschichte?

Axel Hacke, geboren 1956 in Braunschweig, ist einer der bekanntesten Autoren Deutschlands. Er war jahrelang Reporter und Streiflicht-Autor bei der „Süddeutschen Zeitung“, bevor er sich vor allem aufs Kolumnenschreiben verlegte: Seine Kolumne „Das Beste aus aller Welt“, aus dem SZ-Magazin, zählt zu den besten Deutschlands. Hacke schrieb außerdem zahlreiche Bücher, zuletzt erschien das „Kolumnistische Manifest“.
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Klagenfurter Wortgeklingel
Herbert Riehl-Heyse · Süddeutsche Zeitung · 1985
1985 nahm Herbert Riehl-Heyse oder „Riehl“, wie alle in der Zeitung ihn nannten, am Klagenfurter Publizistik-Wettbewerb teil; er wollte dort eine Geschichte über den Skandal um Fassbinder und sein Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ lesen. Aber in den Tagen vor seinem Auftritt verfolgte er die Lesungen der anderen Autoren – und schrieb dann über Nacht „Klagenfurter Wortgeklingel“, dieses brillante Stück über den Wettbewerb selbst. Den Preis bekam er für das Husarenstück nicht, denn die Jury schloss ihn unter dem Vorwand aus, es handele sich statutenwidrig um einen unveröffentlichten Text. Für mich aber ist er das Dokument der Leidenschaft eines viel zu früh gestorbenen großen Journalisten, der sich immer bis zur letzten Minute um Qualität bemühte, nie zufrieden war, dem Beruf verfallen, keine Mühe scheuend.
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Das ist ein Raubüberfall
Peter Sartorius · Süddeutsche Zeitung · 1981
„Das ist ein Raubüberfall“ ist eine vollständig ungeplante Reportage: Peter Sartorius wurde nämlich, was er sich sicher nie gewünscht hatte, aber doch nun irgendwie Reporterglück war, in New York überfallen – und er schildert einfach, was danach geschah. Ihm gelingt ein Porträt des New Yorker Alltags jener Jahre. Ein mir auf immer unvergessliches Stück, weil durch reinen Zufall der Autor dem Leben so nahe kam, wie es kaum einmal geschieht, einfach, weil er, ganz unverhofft, Teil dieses Lebens wird.
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Das 24-Stunden-Missverständnis
Gerd Kröncke · Süddeutsche Zeitung · 1988
Gerd Kröncke war in seiner Zeit als Londoner Vertreter der SZ (mehr noch als später in Paris) für mich immer der Inbegriff des Auslands-Korrespondenten, ein ebenso profunder Landeskenner wie ein elegant-entspannter Plauderer, der in unvergleichlich leichtem Ton erzählen konnte. In „Das 24-Stunden-Missverständnis“ schildert er 24 Stunden in London ohne Geld, eigentlich ein Thema für einen Lokalreporter, weit weg von allem Spektakulären, von Kröncke aber in bewundernswerter Leichtigkeit erzählt.

Annabelle Seubert, geboren 1985 in Bad Mergentheim, ist Redakteurin der „taz. am wochenende“ im Ressort Gesellschaft. Ihr Text „Landkarten sind für Muschis“ war 2014 für den „Henry-Nonsens-Preis“ nominiert.
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Eigentlich eine Liebesgeschichte
Erwin Koch · taz · 2012
„Und essen Sie vor dem Sterben nicht zu üppig, trinken Sie keinen Schwarztee, keinen Kaffee, keinen Fruchtsaft. – Aber Champagner?, fragt Konietzka.“
Eigentlich sind viele Sätze, die Erwin Koch schreibt, unglaublich. Ein bisschen wie letzte Sätze: zum Heulen und zum Lachen. Ich würde gern erklären können, woran das liegt. Womöglich würde ich dann behaupten, dass neben seinen ganzen Postleitzahlen kein Platz für Pathos ist. Dass da jemand wohl versteht, was man so erlebt. Als Fußballprofi, als Krebskranker, als dessen Frau. Aber ich habe keine Ahnung. Nur ein Gefühl: Erwin Koch mag keine Urteile. Er mag die Menschen, die er trifft.
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Nüchtern
Benjamin von Stuckrad-Barre · Welt am Sonntag · 2012
Noch ein Star. Und eigentlich ist „Nüchtern“ von Benjamin von Stuckrad-Barre nicht mal eine Reportage. Oder? Wir sagen „Prost!“, wir sagen „Cheers!“, er sagt „Nein, danke“. Jaja, Wasser, für ihn nur Wasser. Stuckrad-Barre über sein letztes Bier im Bordrestaurant und die langweiligen, trockenen Stehründchen danach: Ich weiß nicht, welcher journalistischen Form dieser Text angehört, und das gefällt mir. Manchmal muss ich daran denken: Wie er den Partyrausch beschrieben hat, der alle Gäste scheinbar simultan überfällt – alle außer ihn. Wie er sich morgens beim Joggen wie ein Loser vorkommt, wenn ihm noch Trunkene aus der Nacht entgegentaumeln, und man nicht sagen kann, wer er lieber wäre: die oder er. Und dass das letztlich keine Rolle spielt, nüchtern, verkatert, „ihr habt recht, ich habe recht“ – zusammen sind sie bloß die Sinnlosgesellschaft, die sich zufällig im Park trifft.
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Drei Winter lang
Waltraud Schwab · taz · 2012
Der alte Nachbar aus der Eisenbahnstraße, Pissarius, erzählt immer, im Krieg habe er drei Juden versteckt. Die Studentin, der er das erzählt, glaubt es nur halb. „Wie soll das gehen?“, fragt sie. „Mit dem Essen, den Bomben und allem?“ Die Studentin ist Waltraud Schwab und wird Journalistin. Sie schreibt einen Text über die Eisenbahnstraße, der ein Text über den alten Pissarius wird – da ist Pissarius seit zwölf Jahren tot. 23 Jahre ist er tot, als sich plötzlich eine Frau aus Amerika meldet: Sie habe diesen Artikel im Internet gefunden. Darin von drei Juden gelesen, die ihre Großeltern und ihr Vater gewesen sein müssen. „Oh my God.“ Sie würde gern nach Deutschland kommen, in die Eisenbahnstraße. Zeigen Sie sie mir? „Also war es doch wahr“, schreibt Waltraud Schwab in „Drei Winter lang“. Vielleicht ist auch wahr, was sie dauernd sagt: „Es gibt keine Geschichten wie früher.“

Florian Hanig, 1968 in Gräfeling geboren, ist Reporter bei der GEO. Seine Reportagen wurden mit dem Axel-Springer-Preis ausgezeichnet und waren für den Kisch- und den Reporter-Preis nominiert. Hanig schreibt außerdem Drehbücher, zuletzt für den ARD-Film „Monsoon Baby“,der gerade für den Grimme-Preis nominiert wurde.
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Unsere gute Frau in Kalkutta
Alexander Smoltczyk · GEO · 1995
Nachdem sie jahrzehntelang als Heilige porträtiert worden war, schwang 1995 das Pendel um und eine Handvoll amerikanischer, britischer und deutscher Journalisten rechneten mit Mutter Teresa ab: dass sie die Sterbenden als Mittel für ihre Frömmigkeit missbraucht und lieber sterben lässt, als sie medizinisch zu versorgen; dass sie auf ihren Spenden sitzt, anstatt das Geld sinnvoll einzusetzen; dass ihr Orden ganz schlecht gemanagt wurde. Und zwischen all diesen hämischen und zynischen Verrissen erschien die Reportage von Alexander Smoltczyk, der ebenso präzise wie zärtlich beschrieb, wie sich diese kleine Frau mit den Wurzelfingern ihren naiven Glauben bewahrt und ihn gegen jegliche Form von Bürokratie und Organisation verteidigt hat. Klug und berührend.
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Macht Reisen muffig, Paul Theroux?
Heike Faller · Die Zeit · 2000
Wenn ich donnerstags die drei Pfund Zellulose auf den Tisch geknallt bekomme, schau ich als Erstes, ob sich darin Texte von Henning Sussebach oder Heike Faller verstecken. Die beiden sind für mich die feinsten Beobachter des deutschen Alltags. Hier hab ich allerdings einen älteren Text von Heike ausgesucht, weil da schon alles aufscheint: diese spielerische Leichtigkeit und Aufrichtigkeit – sich, dem Porträtierten und dem Leser gegenüber. Und diese feine Selbstironie.
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Maximum City: Bombay lost and found
Suketu Mehta · Suhrkamp · 2008
Sieben Jahre lang hat Suketu Mehta an dem Buch geschrieben, das ein (mit den Lesern gnädiger) Lektor dann von mehr als 2.000 Seiten auf 584 eingekürzt hat, und er verwebt darin die Leben seiner Bewohner – ein Barmädchen, das vom Ende der Welt träumt; ein Bollywood-Schauspieler, der zum Terroristen wird; ein Juwelenhändler, der allen Reichtum verschenkt; ein Gangster, der ihm die Pistole an den Kopf hält – zu einem Panorama der brutalen, herzzerbrechenden und wahnwitzigen menschlichen Natur in diesem größten und schillerndsten Babylon unserer Tage. Ein Buch mit tausend Rüsseln und Armen, das einen nicht mehr loslässt. Den Auftrag dazu bekam Mehta aufgrund einer sehr viel kürzeren Reportage in Granta (57 – India, the golden Jubilee). Großartig!

Ulrich Matthes, geboren 1959 in Berlin, ist einer der renommiertesten Schauspieler Deutschlands. Er gehört zum Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin und wurde mehrfach als „Schauspieler des Jahres“ ausgezeichnet. Matthes, dessen Vater Chefredakteur des „Tagesspiegels“ war, ist als ebenso begeisterter wie besessener Zeitungsleser bekannt.
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Das Flüstern der Ewigkeit
Kerstin Decker · Der Tagesspiegel · Tagesspiegel
Zu Gunther von Hagen und seinen plastinierten Leichen hat wahrscheinlich jeder eine Meinung. Kerstin Decker sicher auch, in ihrer Reportage versucht sie aber (dennoch), sich dem Thema so neugierig, so unbefangen wie möglich zu nähern.
Das klingt angesichts der Form „Reportage“ wie eine Binse – es scheint aber doch oft schwerer zu sein als gedacht.
Ich rechne ihr hoch an, dass sie auf Ironie verzichtet, obwohl das Sujet diese nahelegt. Jeder Leser liebt ironische Texte – sie gut zu schreiben, ist schon schwer, auf sie zu verzichten, noch schwerer.
P.S.: Die Überschrift finde ich doof. Hat die ein Redakteur auf die Schnelle gemacht?
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Der Stumpf
Björn Stephan · SZ-Magazin · 2014
Hier staunt man zunächst: Wie, das gibt’s?!
(Man ist ja immer dankbar, wenn man Gelegenheit zum Staunen bekommt. Zu selten.) Zumal wenn der Autor es schafft, seinen Text mit so viel Empathie wie Anti-Sentiment gleichermaßen aufzuladen wie hier. Man ahnt, wie ein schwächerer Journalist mit dem Phänomen BIID und diesem speziellen Fall umgegangen wäre: voyeuristisch und deutlich weniger lakonisch als Stephan.
Toll auch, dass die Frage „Finden Sie sich egoistisch?“, die man sich als Leser beantwortet wünscht, ganz am Schluss tatsächlich kommt. Und an dieser Stelle keinerlei moralischen Unterton mehr hat, sondern nur Interesse an diesem einen Menschen ausdrückt – wie der ganze Text.
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Der Mann, den sie Ronny nannten
Stefan Willeke · Zeit-Magazin · 2014
Ein Highlight.
Schon dem ersten Satz merkt man die Energie an, die den Text bis zum Schluss vorantreiben wird.
Stefan Willeke scheint in seiner Reportage einfach nur aufzuschreiben, was er – glänzend – recherchiert hat: „Ich wähle die Telefonnummern und mache Termine aus“. Einerseits.
Dann wird er aber ganz plötzlich überraschend persönlich, ja emotional: „Ich frage mich: Für wie blöd hält Pofalla Journalisten?“
Aus dieser Gespanntheit bezieht der gesamte Text eine enorme Kraft, ja Härte.

Kathrin Spoerr, geboren 1965 in Kühlungsborn, ist Reporterin bei der „Welt“ und Autorin mehrerer Bücher. Im April erscheint ihr erster Roman „Nach Feierabend“, den sie mit zusammen mit Britta Stuff schrieb.
Ich habe lange überlegt, was eine Reportage haben muss, damit sie mir richtig gut gefällt. Zuerst fand ich, dass sie traurig sein muss, tragisch und relevant. Dann dachte ich, nein, die Kunst besteht darin, leicht zu sein und locker, vielleicht sogar lustig. Schließlich fiel mir mitten in der Nacht ein, dass ich etwas ganz anderes wirklich wichtig finde: Sie darf nicht langweilig sein, auch nicht in Zeile 532.
Es ist egal, worum es geht, so lange ich beim Lesen gar nicht dazu komme, mich zu fragen, wie viel Text ich noch vor mir habe oder immerzu denke „Oh Gott, nimmt das kein Ende“. Wenn sie toll ist, geht es mir mit einer Reportage wie mit einem Buch. Ich wünsche mir ungefähr ab der Hälfte, dass nicht so schnell Schluss ist, und ab dem letzten Viertel lese ich absichtlich langsamer. Wenn sie dann doch zu Ende ist, bin ich immer ein bisschen traurig.
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So, und jetzt kommst du
Arno Frank · Dummy · 2004
Geschichte einer völlig verkorksten Kindheit mit irren Eltern und schrecklichen Erlebnissen – und trotzdem keine Opfergeschichte, sondern ein Abenteuer, um das ich Arno Frank, der das alles wirklich erlebt hat, am Ende fast ein bisschen beneidete – und das liegt ganz sicher nicht an den Erlebnissen, sondern daran, wie er sie beschrieben hat.
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Wa
Benjamin von Stuckrad-Barre · Tempo · 2006
Seit fast 20 Jahren lebe ich in Berlin, und es war mir immer ein bisschen peinlich. Dreckig, arm, verfilzt – deswegen. Vor kurzem las ich diesen uralten Text. Ich habe eine halbe Stunde lang vor mich hin gelacht – und am Ende war es so, dass ich Wowereit, Berlin und sogar Benjamin von Stuckrad-Barre total toll fand, obwohl ich den gar nicht kenne.
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Herr Schröder will es allen zeigen
Britta Stuff · Welt am Sonntag · 2011
Britta Stuff. Sie ist die Beste. Ihre Texte sind immer anders, immer überraschend, entweder in der Form oder im Inhalt, meist aber in beidem. Ich habe lange nachgedacht, welche ihrer Reportagen meine liebste ist, konnte mich aber nicht entscheiden. Am Ende habe ich gelost und diese hier gezogen.

Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, ist Redakteur beim „Tagesspiegel“ und Kolumnist beim „Zeit“-Magazin. Er wurde unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Buch „Die neuen Leiden des alten M.“
Sie haben mich gebeten, drei Lieblingsreportagen zu nennen. So etwas wie eine „Lieblingsreportage“ habe ich gar nicht. Ich lese in jeder Woche ein oder zwei Reportagen, die ich für besser halte als den Durchschnitt. Und natürlich verpasse ich einige andere, die auch gut sind. Ich mag Geschichten, die sich um kleine, scheinbar nicht weltbewegende Themen drehen und die trotzdem etwas erzählen über die Welt. Eine bewegende Geschichte zum Beispiel über eine Hungerkatastrophe zu schreiben, ist notwendig und ehrenwert. Man bekommt oft Preise dafür. Aber ich werde nie den Verdacht los, dass Filme und Bilder über Katastrophen und Kriege die stärkere Wirkung haben, egal, wie gut man schreibt. Bilder können lügen? Ach, wissen Sie, das können Autoren auch.
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Ein Hund fürs Leben
Jens Mühling · Tagesspiegel · 2014
Ich erinnere mich an eine Geschichte über einen alten Hund. Im Grunde ist es eine Geschichte über Liebe, die Liebe einer Frau zu einem sterbenden Hund, den sie nicht einschläfern lassen möchte. Sie trägt ihn täglich die Treppe ihres Mietshauses hinunter, damit er im Garten ein paar wacklige Runden dreht, und ein Nachbar zeigt sie wegen Tierquälerei an. Das Tier gehört eingeschläfert! Nun setzt sich der Staatsapparat in Bewegung, und mit beachtlichem behördlichem Aufwand, auch an Kosten, soll der Tod eines Hundes durchgesetzt werden. Es ist auch eine politische Geschichte, darüber, dass der Staat sich um bestimmte Dinge nicht kümmern sollte, nicht um die Liebe, nicht um Nachbarn, die sich zu Richtern berufen fühlen.
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Der Tag, an dem mich der Schlag traf
Hans Zippert · Die Welt · 2010
Ich erinnere mich an einen Klassiker, den jeder kennt. Aber wenn ihr mich nach meinen Lieblingsfilmen fragt, statt nach Reportagen, dann ist halt auch „Casablanca“ dabei, ich kann’s nicht ändern. Hans Zippert schreibt über seinen Schlaganfall. Er hat einen Preis dafür bekommen, das gibt es also auch. Inmitten dieses unerfreulichen Ereignisses verliert er nicht den Witz, es ist ein sehr lustiger Schlaganfall, sofern man ihn nicht selber abkriegt. Das bewundere ich – wenn jemand mit Distanz und Selbstironie über ein eigenes Unglück schreiben kann, ohne jedes Selbstmitleid. Distanz ist oft wichtiger als Nähe, beim Schreiben, egal, worum es geht.
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Mannomann, diesmal sind die Alten dran
Sophie Dannenberg · Tagesspiegel · 2004
Mit Sophie Dannenbergs „Mannomann, diesmal sind die Alten dran“ verbindet mich eine Geschichte, die ich in einer Kolumne aufgeschrieben habe. Ist dieser Text überhaupt eine Reportage? Es geht um das Grips-Theater, Deutschlands berühmteste Bühne für Kinder und Jugendliche, x-fach ausgezeichnet, schwerst emanzipatorisch und ultrakritisch. Als Kind ist die Autorin oft dort gewesen. Als junge Erwachsene beschreibt sie ihre Grips-Erfahrungen als eine Art geistigen Kindesmissbrauch, als Manipulation. Ihre These: Grips will die alten Autoritäten nicht stürzen, um die Kinder frei zu machen, sondern um sich selbst und seine Weltsicht an deren Stelle zu setzen. Sie hat das 2004 geschrieben, aber nach dem Skandal um die Odenwaldschule liest es sich noch mal anders. Zur Klarstellung: Bei Grips ging es, so weit mir bekannt ist, nicht um Sex, nur um geistige Herrschaft.

Nora Gantenbrink, geboren 1986, ging auf die Henri-Nannen-Schule und ist heute Reporterin beim Stern. Im vergangenen Jahr erschien ihr erstes Buch „Verficktes Herz“.
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Party an der B4
Christoph Scheuring · Spiegel · 1994
Von allen Reportagen sind mir Christoph Scheurings die Liebsten. „Der König von Köln“, „Nachtsonne über L.A.“, „Fenster zum Himmel“, „Das vierte Gesetz in Knast“. Man spürt in diesen Geschichten, dass Scheuring es ernst mit den Menschen meint und sie mit ihm. An Scheurings Reportage „Party an der B4“ gefällt mir alles, aber besonders der Einstieg, der letzte Satz, und dass ein Opel Ascona drin vorkommt.
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Puccini statt Pralinen
Erwin Koch · Reportagen · 2012
Erwin Koch zu empfehlen, ist natürlich nicht sehr ausgefallen, aber das ist mir egal. „Bäcker Dario Negrotti liebt die Oper, Judith und seine Kinder. Nur eifersüchtig ist er nie.“ Allein diesen Vorspann fand ich klasse. Den Text „Puccini statt Pralinen“ natürlich auch. Mein Lieblingssatz aus dieser Geschichte geht so: „Dario gefällt ein Mädchen, erste Liebe im fünften Stock, man langweilt sich, Schluss nach drei Monaten.“
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Die Liebe seines Lebens
Özlem Gezer · Spiegel · 2013
Özlem und ich sind Freunde seit der Henri-Nannen-Schule. Aber ich bin mir sicher,dass ich ihr Gurlitt-Porträt genau so überragend fände, wenn wir nur zwei Menschen wären im Universum. Wie sie Gurlitt begleitet und beschreibt, diesen altertümlichen Schrat, diesen modernen Golum, das ist einfach unglaublich gut.

Dirk Gieselmann, geboren 1978, ist Textchef bei 11 Freunde, Gewinner des Henri-Nannen- und des Reporter-Preises und Kreismeister im 100 Meter Kraul. In diesem Jahr ist von ihm «Und nun zum Wetter: 100 Jahre Weltgeschichte im Liveticker» erschienen. Gieselmann wohnt mit zwei Kindern in Berlin-Kreuzberg.
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The Four Horsemen
Grantland Rice · New York Herald Tribune · 1924
Welch ein Texteinstieg von Grantland Rice: «Outlined against a blue-gray October sky, the Four Horsemen rode again. In dramatic lore their names are Death, Destruction, Pestilence, and Famine. But those are aliases. Their real names are: Stuhldreher, Crowley, Miller and Layden.» Die vier Rückraumspieler aus seiner Reportage über ein Spiel der Football-Mannschaft von Notre Dame wurden später tatsächlich auf Pferden sitzend fotografiert, das Motiv zierte lange Jahre die amerikanische 32-Cent-Briefmarke. Könnte so etwas heute noch geschehen? Spielen zeitgenössische Sportreporter auf die Offenbarung des Johannes an? Zu selten jedenfalls. Aber die WM in Katar, sie kommt ja erst noch.
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Down Great Purple Valleys»
John Lardners · True · 1954
Ebenso berühmt ist der Auftakt zu John Lardners Reportage über Leben und Tod eines Boxweltmeisters: «Stanley Ketchel was twenty-four years old when he was fatally shot in the back by the common-law husband of the lady who was cooking his breakfast.» Dies sei, sagte sein Kollege Red Smith, der größte Roman, der je in einem Satz geschrieben wurde. Was wiederum an Ernest Hemingway denken lässt, den seine Saufkumpanen einst mit der Behauptung gereizt haben sollen, er könne keine Geschichte in nur sechs Wörtern erzählen. Er trat den Gegenbeweis an. «For sale: baby shoes, never worn.» Das gehörte zum Besten, was er je zu Papier brachte. Auf Augenhöhe: John Lardners Stücke, die weit, weit über bloße Sportberichterstattung hinausweisen.
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Ich vermisse Dich
Holger Gertz · Süddeutsche Zeitung · 2012
«Man ist sich seiner Sache ziemlich sicher. Dann verliert man wieder. Man wird beschissen, jedenfalls fühlt man sich beschissen, und verloren. (…) Man liegt am Boden, man weint, verlieren ist schrecklich, aber viel schlimmer noch als das Verlieren ist die Gewissheit, dass man danach immer weitermachen muss.» Wahre Sätze, die Holger Gertz da schreibt und mit denen er es fertigbringt, dass seine Leser ihren Bürosisyphosfrust auf ein verlorenes Champions-League-Finale projizieren und dadurch sublimieren können. Schöner scheitern mit Schweini: Selten hatte ein Text eine größere kathartische Kraft. «Was ist das Großartige am Fußball?», so Gertz. «Dass er, in seinen besten Momenten, wie das Leben ist, so kann man es wohl sagen.» Gertz kann.

Wolfgang Uchatius war bei der ZEIT erst Wirtschaftsredakteur, dann Reporter. Heute leitet er dort das Dossier. Er wurde unter anderem mit dem Reporterpreis, dem Otto-Brenner-Preis und dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet.
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Die Welt des Konrad Eugen Himmelein
Peter-Matthias Gaede · Geo · 1990
Als ich vor fast 25 Jahren diesen Artikel in die Hände bekam, wusste ich nicht, dass ich einmal Journalist werden würde. Ich war bloß ein Leser. Außerdem war ich Zivi an einer Schule für geistig behinderte Kinder. Die Arbeit dort faszinierte mich und rührte mich an, aber es fiel mir schwer, anderen zu erklären, was an diesen Menschen so besonders war. Dann erschien diese Reportage, deren Autor Peter-Matthias Gaede mit scheinbarer Leichtigkeit über Konrad, den Bäcker, Johannes, den Kistenbauer, und Hans aus der Wollwäsche schrieb. Alle sind sie Bewohner einer Behinderteneinrichtung und „so frei, ganz normal verrückt zu sein“. Hier las ich sie, die Worte, die mir fehlten.
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Die lange weiße Linie
Roland Schulz · Neon/Stern · 2008/2009
Es heißt oft, der erste Satz einer Reportage sei besonders wichtig. Stimmt. Aber ich glaube, der zweite Satz ist noch wichtiger, auch der dritte und der vierte. Einen guten ersten Satz zu finden, ist nicht leicht, aber man kann es irgendwie hinkriegen. Richtig schwer dagegen ist es, den kürzesten Weg von diesem ersten Satz zum Thema des Textes zu finden, sprich, die Geschichte in Gang zu bringen. Roland Schulz schreibt in seiner Reportage über den internationalen Drogenhandel, und er schafft es, in wenigen Sätzen von null auf hundert zu beschleunigen. Danach kann er es sich dann leisten, das Tempo hin und wieder ein wenig zu drosseln.
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Ich vermisse Dich
Shalom Auslander · Zeit-Magazin · 2010
„Ich vermisse Dich“ ist im engeren Sinne keine Reportage. Im weiteren Sinne wahrscheinlich auch nicht. Aber vielleicht darf ich das Stück hier trotzdem anpreisen? Ich bin nämlich der Meinung, dass es der Reportage in Deutschland ganz gut geht. Jedenfalls stoße ich oft auf spannende, überraschende, kurz, großartige Reportagen. Weniger oft stoße ich auf spannende, überraschende, kurz, großartige Essays. Während sich viele Reporter erkennbar große Mühe geben, ihren Stoff mit Hilfe von Dramaturgie und Erzähltechniken zum Leser zu bringen, scheinen mir manche Essayisten da ein wenig nachlässig zu sein. Shalom Auslanders Text über religiöse Fanatiker ist ein Gegenbeispiel, aber vielleicht ist es kein Zufall, dass er ursprünglich auf Englisch erschienen ist.

Amrai Coen besuchte die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seitdem ist sie Redakteurin bei der ZEIT. Sie wurde unter anderem mit dem Axel-Springer-Preis und dem Reporterpreis ausgezeichnet.
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Auf deutsch gesagt: gestrauchelt
Marie-Luise Scherer · Der Spiegel · 1979
Als ich Marie-Luise Scherer mal traf, sagte sie, manchmal hätte sie eine ganze Nacht damit verbracht, das richtige Adjektiv zu finden. Ihre Texte sind dokumentarisch genau und trotzdem Poesie. Meine Lieblings-Scherer-Geschichte handelt von Manni und seiner Heroinsucht. Und wie seine Familie an Mannis Sucht zerbricht. „Mensch, ich wollt ja gar nicht auf die Welt“, sagt er zu seinen Eltern. Scherers Geschichten haben einen Sog, der von Satz zu Satz heftiger wird. Irgendwann isst Manni nur noch Joghurt, Mars, Milky Way und Bounty. Und sagt: „Heute setz ick mir den Todesschuss!“
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Wie ich Yes Man wurde
Marc Fischer · Greenpeace Magazin · 2009
Marc Fischer schrieb Reportagen, in denen es nicht darum geht, die Welt zu retten. Keine Toten, keine Armen, keine Opfer. Stattdessen setze er sich einen Tag lang auf einen Postkasten. Oder stellte sich in der Schlange des Berghains an. Er fand Geschichten, wo kein anderer sie suchte. Was ich bewundere an seinen Texten: dass er keine Angst hatte, sich selbst zum Affen zu machen. In seiner „Yes Man“-Geschichte wird er zum Polit-Aktivisten und verteilt gefälschte Ausgaben der Boulevardzeitung New York Post in Manhattan. Seine Texte sind zugleich total ernst und total albern, das gefällt mir so daran.
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Die Stute von Majdanek
Thorsten Schmitz · SZ-Magazin · 1996
Leiser kann man eine Reportage kaum beginnen: „Ein Parkplatz in Bochum-Linden, also.“ Ein alter Mann mit Kordmütze schiebt eine alte Frau im Rollstuhl über den Wochenmarkt. Harmlos klingt der Text am Anfang, der sich in den folgenden Absätzen und Seiten in ein Protokoll des Grauens verwandelt. Die Frau im Rollstuhl ist die ehemalige KZ-Aufseherin Hermine Ryan. Der Autor trifft sie und ihren Ehemann, als sie nach zwanzig Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Schmitz beobachtet und beschreibt nur – und darin liegt die Wucht der Reportage. Schlicht erzählt er die Geschichte der KZ-Aufseherin: wie sie Kinder mit einer Suppenkelle blutig schlug, sie wie Schlachtvieh auf Todeslastwagen warf. Und wie sie heute als Krüppel im Rollstuhl sitzt und kaum noch sprechen kann. Soll ich diese Frau bemitleiden oder hassen?, frage ich mich nach dem Text. Und wo liegt die Grenze zwischen Normalität und Monstrosität? Schmitz urteilt nicht in seiner Reportage. Der Leser muss selbst entscheiden.

Takis Würger volontierte bei der Abendzeitung in München und besuchte die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seitdem ist er Redakteur beim Spiegel.
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Der Buchhalter von Auschwitz
Matthias Geyer · Der Spiegel · 2005
Ich habe viel über den ersten Satz dieser Geschichte nachgedacht. Matthias Geyer beschreibt das Leben eines Mannes, der in Auschwitz das Geld der toten Juden zählte und nun versucht, mit seiner Schuld klarzukommen. Der Text beginnt mit: «Draußen singen die Vögel, vom Garten her weht Frühlingswind ins Wohnzimmer.» Ein ungeheuerlicher Einstieg für eine ungeheuerliche Geschichte. Geyer ignoriert jede Regel, die ich über einen guten ersten Satz gelesen habe. Er fängt nicht mit einem Erdbeben an, sondern mit Vogelgezwitscher. Ich weiß nicht genau, wieso das genial ist, aber die Kombination der Überschrift und dem Einstieg hat mich gefesselt. Geyer erzählt das Leben des Buchhalters still und kühl. Er beschreibt den Butterkuchen auf dem Tisch. Er schafft mit seiner Sprache und seinen Beobachtungen eine Atmosphäre, die erschüttert. Wenn ich an den Text denke, habe ich das Gefühl, ich wäre dabei gewesen und bin froh, dass ich es nicht war.
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Peters Traum
Jonathan Stock · Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung · 2011
Es gibt Reporter, die sich reinhängen und etwas riskieren. Das finde ich schön. Team Wallraff brät Burger, Özlem Gezer fährt 63 Stunden im Flüchtlingsbus, Wolfgang Bauer mit dem Schiff nach Misrata. Jonathan Stock wurde zum Salafisten, um über einen gefährlichen Islamisten aus Hamburg zu schreiben, der im Djihad sterben möchte. Ein Jahr lang betete Stock in der Moschee und hing mit den Islamisten rum, bis sie ihn akzeptierten. Er ging mit Peter in einen Fight Club und ließ sich gegen den Kopf hauen. Er schlief bei ihm auf dem Sofa und aß nach dem Frühgebet Spiegelei mit ihm zum Frühstück, das Peters Mutter gebraten hatte. Dann schrieb er das bisher einzige Portrait eines deutschen Islamisten, das erklärt, warum diese Menschen glauben, was sie glauben. Der Text ließ mich diese Jungs ein wenig besser verstehen und nahm mich mit in eine Szene, die ich mir nicht vorstellen konnte. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass Stock über Hasen und Narzissen schreibt, damit er uns noch ein wenig erhalten bleibt, der kleine dau dau.
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Eine Überdosis Hoffnung
Anita Blasberg · Die Zeit · 2011
Ich interessiere mich nicht für Rennpferde, und ich lese Die Zeit nicht häufig. Aber ich würde sie jede Woche lesen, würde Anita Blasberg immer schreiben. 2011 schrieb sie die Geschichte «Eine Überdosis Hoffnung». Die Überschrift ist so bescheuert, dass ich fast keine Lust mehr auf den Text hatte. Er handelt von dem Vollblut-Rennpferd «Overdose» und war für mich der Text des Jahres. Er schafft es, ein Tier zum Protagonisten einer Geschichte zu machen. Die Dramaturgie ist so schön. Der Text steckt voller Liebe für die Menschen und das Pferd. Ich habe geweint und war dankbar dafür.

Philipp Maußhardt leitet die Reutlinger Reportageschule Günter Dahl. Als Reporter arbeitete er querbeet durch die deutsche Medienlandschaft, von der Zeit über die taz bis hin zur Abendzeitung und Bunte.
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Geh nicht kaputt
Friederike Haupt · Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung · 2013
Es ist große Kunst, über das Nichts zu schreiben. Über das scheinbare Nichts. Kein sichtbares Elend, keine schreiende Ungerechtigkeit, ja nicht einmal ein interessanter Lebenslauf. Aber guten Reportern gelingt es, auch in den Schrebergärten fündig zu werden, sie brauchen keine Schlachtfelder. Friederike Haupt ist so eine Reporterin. Sie läuft durch eine Seitenstraße in Leipzig und sieht einen Mann vor einer Kneipe rauchen. Mehr Verdachtsmomente gibt es nicht. Die meisten würden achtlos daran vorbei laufen. Sie tat es nicht. Sie ging hinein und wieder wären wohl die meisten umgedreht: Eine fast menschenleere Vorstadtkneipe mit Vorstadtmenschen, Blümchen auf den Tischen, Tellerschnitzel auf der Karte, wen interessiert das? Mich. Das „Weiße Ross“ ist ein zauberhaft-grausiger Ort, ein Asyl für Menschen, denen der Platz ausgeht. Liebenswert-traurige Gestalten, über die es leicht wäre, sich lustig zu machen. Friederike Haupt lässt sie leben. Die Würde des Menschen ist unantastbar.
2
Annely
Erwin Koch · Zeit-Magazin · 2010
Eine ältere Frau hält nächtliche Selbstgespräche auf ihrem Balkon. Sie spricht zu einem Stern, den sie Alois nennt. So hieß ihr Mann, den sie bis in den Tod zuhause gepflegt hatte. Erwin Koch klingelt eines Tages an der Tür und lässt sich von Annely ihre Lebens- und ihre Liebesgeschichte erzählen. Sie ist Heimarbeiterin, Alois Arbeiter in einer Spedition. „Durchschnittsmenschen“, „Schrebergärtner“, „No-Names“. Alois und Annely haben nichts Spektakuläres in den vielen Ehejahren erlebt, sie sind mit dem Fahrrad in den Urlaub gefahren, später sogar mal mit dem Zug an die Adria. Sie haben Kinder bekommen und versucht, sie zu anständigen Menschen zu erziehen. Darüber kann man schreiben? Ja, wenn man Erwin Koch heißt und die Menschen achtet, über die man schreibt.
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Die Kunst des Fliegenfischens
Christoph Scheuring · Die Zeit · 1998
Nur die Allerbesten sollten es wagen, eine Reportage über das Angeln zu schreiben. Wahrscheinlich gibt es deshalb so wenige Angler-Reportagen. Angeln besteht zum größten Teil aus Warten. Und Warten ist der Zustand von einem Erlebnis bis zum nächsten. Eine Angelreportage beschreibt daher die Zeit, in der nichts passiert. Christoph Scheuring ist mit seiner Geschichte über das Fliegenfischen dieser Herausforderung zwar ein wenig ausgewichen (beim Fliegenfischen saust wenigstens ständig eine Schnur durch die Luft), ich kenne aber seit dem Erscheinen dieser Reportage (vor 16 Jahren!) kein besseres Beispiel dafür, Leser für ein Thema zu begeistern, das sie vor der Lektüre zu 99 Prozent nicht interessiert hat.

Lara Fritzsche ist Redakteurin beim Süddeutsche Zeitung Magazin. Für ihre Reportagen wurde sie unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Axel-Springer-Preis ausgezeichnet.
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Geschiedene Leute
Kathrin Spoerr · Welt am Sonntag · 2013
Frau und Mann verlieben sich, heiraten, kriegen Kinder, fangen an sich auf den Geist zu gehen, haben Affären, lassen sich scheiden. Die Autorin Kathrin Spoerr beschreibt in ihrem Text eine Beziehung – von der ersten Begegnung bis zur Trennung. Als AutorIn gibt man das Wort ungern aus der Hand. Aber manchmal gibt es Dokumente, die Aspekte einer Geschichte besser erzählen können: Zitate aus Gerichtsunterlagen, Krankenakten, Klassenbüchern, alten Briefen, SMS. Spoerr zitiert für ihre Geschichte aus der Scheidungsakte der beiden und – ein besonders tolles Dokument, wenn man über eine Partnerschaft schreibt – aus den Pro- und Contra-Listen, die die Frau angefertigt hat, um sich darüber klar zu werden, ob sie ihn wirklich heiraten bzw. verlassen soll.
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Willkommen in Deutschland
Carolin Emcke · ZEITmagazin · 2014
Manchen Texten merkt man an, dass die AutorInnen nur selbst darin auftauchen um dem Leser zu zeigen, wie clever sie sind. Für die Reporterin Carolin Emcke gilt das nicht. Sie feiert nicht sich selbst, sondern die Transparenz. Emcke erzählt dem Leser, warum sie welchen Gedanken nachgeht, was sie nicht versteht, ja, sogar, warum sie den einen Protagonisten für ihre Geschichte aussucht und nicht den anderen. Sie nennt ihre Auswahl in ihrer Reportage selbst professionell-unprofessionell. Diese offengelegte Subjektivität finde ich spannend. Ich habe mir fest vorgenommen, das demnächst auch mal auszuprobieren.
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Der Getriebene
Heike Faller · ZEITmagazin · 2012
Es gibt einen Absatz in dieser guten Reportage, der zeigt, dass es nicht immer die Nähe des Reporters zum Geschehen ist, die eine Geschichte intensiv werden lässt. Hier, im Fall des Pädophilen, den Heike Faller begleitet hat, ist es die Distanz: „Am Freitag, den 9. März, konnte man in einem Park in einer Kleinstadt einen Mann und eine Frau beobachten, beide um die dreißig, die schweigend nebeneinanderher gehen. Irgendwann beginnt der Mann zu sprechen. Ein paar Minuten später nimmt die Frau ihn in den Arm. Sie fängt an zu weinen.“ Und ich auch.

Holger Gertz ist Reporter und Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung und Autor des Buches „Brüder und Schwestern – Ein Besuch bei den Deutschen„.
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Locker, Bahne, locker
Dirk Kurbjuweit · Der Spiegel · 2001
Vordergründig ist das eine Geschichte über den Olympiaruderer Bahne Rabe, der sich nach dem Ende der Karriere zu Tode hungert. Aber Kurbjuweits Reportagen sind nie vordergründig, er komponiert Bilder, Reflexionen, Gedanken zu Texten, die man nicht vergisst. „Locker, Bahne, locker“ ist die Dokumentation eines Einzelschicksals, zugleich eine Lektion in Menschenkunde. Da ist die Hilfsbereitschaft der Freunde, die nichts mehr bewirken kann. Die naive Liebe der Eltern. Der Athletenkörper, der nur noch Kostüm ist. Die Nähe zwischen Menschen – in Wahrheit nur imitierte Nähe. Kurbjuweit baut die Portale gewohnt unangestrengt in seine Geschichte ein, und er zeigt, dass die Schönheit eines Textes immer aus Nüchternheit wächst, nie aus Pathos und Geschwurbel. So beschreibt er das Duell zweier Ruderer: „Baar wiegt 95 Kilo bei 1,96 Metern und zieht 450 Watt am Ergometer. Er schlägt kurz und schnell. Seine Boote flattern wie Fledermäuse. Rabe wiegt 95 Kilo bei 2,03 Metern und zieht 460 Watt am Ergometer. Er schlägt lang und ruhig. Seine Boote schweben wie Möwen.“
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Der unheimliche Ort Berlin
Marie-Luise Scherer · Der Spiegel · 1987
Die Autorin schreibt über Leben und Sterben in einem Berliner Wohnquartier, wobei es einerlei ist, ob sie die noch Lebenden porträtiert oder die schon Gestorbenen: man unterstreicht eine Zeile, man unterstreicht die nächste, am Ende ist der ganze Text bunt. Und der Text ist lang, sehr lang, 15 Seiten Spiegel. Lauter Begegnungen: Deutsche und Türken. Sehnsüchte und Enttäuschungen. Tragik und Witz. So beschreibt Marie-Luise Scherer das Leben: „Sie tänzelten um ein kopulierendes Hundepaar, das unsicher auf sechs Pfoten stand und dabei dreist zu lächeln schien.“ So beschreibt sie den Tod: „Diesen mit nichts zu vergleichenden Leichengeruch konnten sie damals, als er von furchtbarer Deutlichkeit hätte sein müssen, nicht wahrnehmen. Dort oben habe es immer den Gestank von Abfällen gegeben, doch nicht diese Nuance, für die es kein Wort gibt.“
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Die Abschaffung des Albert T.
Erwin Koch · Spiegel Special · 1990
Die dritte Geschichte über den Tod, verfasst von Erwin Koch. Koch kennt immer sämtliche Zimmernummern, Speisefolgen, Eintrittspreise. Diese Gründlichkeit wirkt bei anderen Autoren oft streberhaft ehrgeizig, bei Koch ist sie Kennzeichen eines nicht kopierbaren Stils: Wer die wahrhaftige Geschichte seiner Protagonisten erzählen will, darf sich keine Schludrigkeiten gestatten. Hier ist es die Geschichte von Albert T.: ein Nerd, der an die falsche Frau gerät. Sie bringt ihn allmählich um, mit Knollenblätterpilzen. Koch hat viel geredet mit den Menschen, die Albert kannten, und er hat die Spuren von Alberts Leben gesichtet – dieser Albert hatte ja alles abgeheftet, jeden Beleg seiner Liebe, Fahrkarten, Einkaufszettel, Rechnungen. Heraus kommt das Protokoll einer Vernichtung; eine Geschichte, an deren Ende man – wenn man noch nicht komplett versteinert ist – weinen muss. „Die Mutter besuchte den Sohn fast täglich, es war Sommer und warm, in einer Plastiktüte hatte sie eine kleine Hacke und streichelte damit die Erde, unter der er lag.“

Stefan Willeke leitet beim Spiegel das Ressort Gesellschaft und Reportage. Für seine Wirtschaftsreportagen erhielt er mehrfach den Kisch- und Nannen-Preis.
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Eine Vorliebe für echte Hyänen
Holger Gertz · Süddeutsche Zeitung · 2006
Ich habe mich öfter gefragt, ob ich noch etwas anderes könnte, als Journalist zu sein. Könnte ich nützlicher sein, praktischer, zupackender? Könnte ich eine berufliche Wende hinbekommen, oder ist es dafür zu spät? Würde ich in einem anderen Beruf hilflos untergehen, oder könnte ich mich halten? Würde ich mich überhaupt trauen? Holger Gertz hat einen mutigen Menschen beschrieben, den Helden in einer grandiosen Fabel, die ganz und gar wahr ist, die Fabel vom Filmproduzenten, der Zoodirektor in Amsterdam wird. Dieser Mann lässt die Hysterie des Kinogeschäfts hinter sich, er macht einen Schnitt und zieht mit seiner Frau in das Haus des Direktors mitten im Zoo. „Er ist Zoodirektor. Er ist angekommen. Die Blattschneideameise ist so wichtig wie die Netzgiraffe.“ Der Zoodirektor interessiert sich für seine Nachbarn, die Mähnenwölfe, und es ist von nun an eine Auszeichnung, dass er eine dreckige Hose trägt.
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Siegfrieds Erbin
Harald Marteinstein · Der Tagesspiegel · 2003
Liest man viele Reportagen, dann spürt man das literarische Verlangen, das hinter vielen Stücken steht. Manchmal geht es gut aus, dann entstehen große Texte. Manchmal geht es nicht gut aus, dann entsteht ambitionierter Kitsch. Dieser Kitsch enthält eine Warnung an uns Reporter, die wir gern in eine selbstgebaute Falle tappen – die Ästhetisierung der Wirklichkeit. Wir neigen dazu, die Wirklichkeit glatter zu beschreiben, als sie ist. Unsere Geschichten können zu frei von Widersprüchen sein, zu komplett. Wir haben uns so sehr angestrengt, dass wir glauben, unbedingt eines vermeiden zu müssen: das Scheitern. Harald Martenstein hat mit seinem misslungenen Versuch, die Verlegerwitwe Ulla Berkewicz zu treffen, das Gegenteil bewiesen. Martenstein hat sich um einen Termin bei ihr bemüht, aber daraus wird nichts. Sein Text gleicht einem Protokoll des Scheiterns. Wer ihn liest, ist froh darüber, dass die Witwe den Reporter hängenließ.
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Der Doktor und sein Opfer
Alexander Smoltczyk · Der Spiegel · 1999
Die meisten Reportagen sind nach kurzer Zeit vergessen. Man erinnert sich vielleicht noch an ein interessantes Thema oder an eine griffige Überschrift. Aber vom Text bleibt oft nichts übrig. Wenn sich im Gedächtnis auch nur ein einzelner Satz festsetzt, der nach Jahren noch nicht erloschen ist, dann spricht das sehr für Qualität der Reportage. Dann hat dieser Text etwas, das selten ist, extrem selten: Nachhall. Alexander Smoltczyk schrieb 1999 eine solche Reportage mit einem Satz, den ich so schnell nicht vergessen werde. Er lautet: „In Auschwitz war es leicht, ein guter Mensch zu sein.“ Der Satz steht da sehr unaufdringlich, am Ende eines unaufdringlichen Kapitels. „In Auschwitz war es leicht, ein guter Mensch zu sein.“ Stimmt diese Schlussfolgerung eigentlich? Ist diese Behauptung eine Unverschämtheit – oder steht da einer der gewaltigsten Sätze, die jemals über Auschwitz in einer Reportage geschrieben wurden? Es ist ein gigantischer Satz.

Alex Rühle ist Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, war erst zehn Jahre im Feuilleton und wurde dann Reporter der SZ am Wochenende. Er ist Autor des Buches „Ohne Netz: Mein halbes Jahr offline„.
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Federer as Religious Experience
David Foster Wallace · New York Times · 2006
Einer dieser Texte, nach deren Lektüre die Neuronen zu knistern scheinen, soviel Hirnfutter wurde da mitgeliefert. David Foster Wallace, selbst einst Tennisspieler, schreibt über Roger Federer. Über das Glück, dessen großen Spielen als einfache Sofakartoffel beiwohnen zu dürfen. Über die Frage, was Federer mit Muhammad Ali gemein hat. Über die Frage, was „kinetische Schönheit“ ausmacht. Hab selbst weder Tennis gespielt noch je gekuckt, trotzdem schafft es Wallace mit seiner Beschreibungsgenauigkeit, mir den Zauber dieses Sports zu offenbaren.
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Hoffmanns Blick auf die Welt
Henning Sußebach · Die Zeit · 2006
Henning Sussebach muss auf jeden Fall auf mein kleines Medaillenpodium, das war mir eigentlich vom ersten Moment an klar. Für sein Porträt über einen obdachlosen Berliner Flaschensammler habe ich mich deshalb entschieden, weil es dazu ein interessantes Making-Of-Interview mit ihm gibt. Ansonsten: Besser kann man nicht schmuggeln. Auf den ersten Blick wirkt der Text wie ein Monolog des Obdachlosen Oliver Hoffmann. Aber dann sind da all diese Formulierungen, die Sussebach seinem Helden unterjubelt, sowas wie die Kindergartenschar als „Zuversicht in Zweierreihen“. Außerdem: Die zweitwichtigste Tugend im Journalismus ist Fleiss; die wichtigste, ihn zu verbergen. Klar ist „Hoffmann“ eine literarische oder nennen Sie’s eine wahnsinnig gutgeschriebene Reportage. Gleichzeitig ist es aber ein so informativer Text über das Leben auf der Straße, dass man damit draußen überleben könnte. Und drittens blickt dieser Hoffmann, dem man da zusieht, sehr scharf zurück: Ich hab erst beim zweiten Lesen gemerkt, wie sehr das auch ein Text über „uns alle“, über Deutschland, über soziale Kälte und panische Abstiegsängste ist.
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Die Plünderung Irlands – ein Stück in 7 Akten
Constantin Seibt · Tages-Anzeiger · 2013
Schon weil ich gerade für den Absatz über Sussebach den Satz mit dem versteckten Fleiß von ihm geklaut habe, muss er auch noch rein: Der Schweizer Constantin Seibt, der den derzeit interessantesten Blog zum Journalismus unterhält. Und der sich auch mal traut mit Formen zu spielen. Zuletzt, indem er die unfassbaren Telefonmitschnitte der irischen Banker auf dem Höhepunkt der Krise 2008 wie in einem Dokumentartheaterstück arrangierte.

Heike Faller ist Redakteurin beim Zeit-Magazin und Autorin des Buches „Wie ich einmal versuchte, reich zu werden: Mein Jahr unter Spekulanten„.
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Oh, Stephanie! Wo bist du?
Cordt Schnibben · Die Zeit · 1985
Ich war auf der Journalistenschule, als mir ein Freund ein Buch mit den Reportagen eines Reporters namens Cordt Schnibben auslieh. Darin eine Geschichte, in der er beschrieb, wie er beim Rotkreuzball in Monaco seine Hände auf die nackten Schultern von Stephanie legt, in Liebe entflammt und fortan obsessiv jeden Schnibbsel bzw. Schnipsel über sie liest und immer wahnsinninger wird, denn jeder schreibt etwas anderes über ihr Liebesleben. Man glaubt, man liest eine Geschichte über einen verliebten Reporter und merkte bald – es ist eine Yellow Press Kritik. Und ich entflammte auch: Für eine Geschichte, die lustig und leichtfüßig ein schwieriges Thema bearbeitete. Und dachte: So kann Journalismus also auch sein, so lustig und unterhaltend.
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Enrique’s Journey
Sonia Nazario · Los Angeles Times · 2002
Ich saß im Flugzeug aus Amerika, einen Achtstundenflug vor mir, als mir dieses Werk von Sonia Nazario in die Hände fiel. Den ersten Satz habe ich noch in Erinnerung: „The boy does not understand“. Es geht um einen Jungen, dessen Mutter ihn verlassen hat, um in den USA zu arbeiten, und der sich als Jugendlicher auf den Weg macht, sie wiederzusehen. Das Irre: Die Geschichte war fast chronologisch erzählt und dennoch konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Würde er es schaffen? Die simple Frage ließ mich nicht mehr los und ich habe fast den ganzen Flug über gelesen. Und gelernt: So spannend können Reportagen sein, wenn sie auf einem Konflikt basieren. In „Der Getriebene“ habe ich genau das selbst ausprobiert.
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Die Seeschlacht
Henning Sußebach · Die Zeit · 2013
Kollegen loben ist doof, aber hier muss ich eine Ausnahme machen. Keiner kann so gut Gefühle und Dynamiken in Bilder fassen wie mein Kollege aus dem Zeit-Dossier Henning Sußebach. Die Amerikaner sagen: Show, don’t tell. Also: Beschreib eine Szene so, dass man die emotionale Ebene darin anhand der Bilder und Handlungen versteht, statt sie explitzit zu benennen. Wo andere mühsam das Nebeneinander von Normalität und Katastrophe nach einem Surfunfall beschreiben würden, schreibt Henning einfach über seinen schwerverletzten Protagonisten: Am Kai beugen sich Notärzte über den Verletzten, umringt von Eis lutschenden Kindern. Lernen kann man diesen Blick, glaube ich, nicht.

Kathrin Passig ist u.a. Autorin der Bücher „Verirren – Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene“ und „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“. Foto: Jan Bölsche
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How America Lost the War on Drugs
Ben Wallace-Wells · Rolling Stone · 2007
Die Begründung weiß ich nicht mehr, dazu ist es zu lange her, aber ich habe die Reportage damals vor sechs Jahren wochenlang jedem empfohlen…
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Leben zwischen den Stühlen
Gabriele Goettle · taz · 2010
Eigentlich kann ich fast alles von Gabriele Goettle empfehlen, aber das meiste habe ich wieder vergessen, bis auf diese Reportage über einen Obdachlosen in Berlin-Dahlem. Ich lese eigentlich nicht gern Reportagen, unter anderem, weil sie oft etwas Herablassendes haben. Das ist leider auch bei vielen der bei Reportagen.fm verlinkten so. Hier sieht man, dass es auch anders geht…
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Upon this Rock
John Jeremiah Sullivan · GQ · 2004
Der erste Text in John Jeremiah Sullivans Sammlung „Pulphead„, „Upon this Rock“, über ein christliches Rockfestival. Empfehlung aus demselben Grund wie bei Gabriele Goettle: es wäre so einfach, über dieses Thema herablassend zu schreiben; das tut Sullivan aber nicht, stattdessen passiert etwas Seltenes und ganz Unerwartetes. Mehr kann ich nicht verraten, ohne zu spoilern… (Die übrigen Texte im Buch fand ich nicht ganz so beeindruckend.)

Henning Sußebach ist Reporter bei der Zeit. Zuletzt haben wir von ihm die Undercover-Reportage „Maria und Josef in Neukölln“ verlinkt. Er betont, dass seine Auswahl morgen schon wieder ganz anders sein könnte.
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Bis zum letzten Schlag
Bastian Obermayer · SZ-Magazin · 2008
In einem Münchner Krankenhaus wartet ein Mann auf ein neues Herz. Er hofft auf einen tödlichen Motorradunfall irgendwo da draußen, schämt sich gleich dafür, hofft wieder, verzweifelt – und Obermayer schreibt das einfach auf. Dank seiner exzellenten Beobachtungsgabe hat der Autor den Block so voll, dass er es nicht nötig hat, vor all den Szenen, Fakten und Zitaten einen eitlen Autorentanz aufzuführen, der nur ablenken würde von der eigentlichen Geschichte. Das ist die größte Leistung an dieser ohnehin sehr guten Reportage. Der Autor wusste: Dies ist ein Text, bei dem er sich im Hintergrund halten muss.
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Kalte Sonne
Holger Gertz · Süddeutsche Zeitung · 2013
Gerade erst erschienen, trotzdem fast schon legendär: Gertz trifft Heino in einem Hotelfoyer in Erfurt. Viel spricht dagegen, dass eine gute Reportage daraus wird. Zum einen: Heino. Der Mann scheint auserzählt, sein wahres Ich verschüttet von Klischeelawinen. Zum zweiten: das Hotelfoyer. Groß ist die Gefahr, dass an so einem öden Ort eine öde „Und nippt an seinem Kaffee“-Geschichte entsteht. Aber gerade weil da so wenig ist – so wenig wahrhaftiger Protagonist, so wenig aufregender Ort, so wenig Handlung – kommt ein kluger Text dabei heraus: Der Autor muss denken, deuten, urteilen. Und das tut er! Das Resultat ist eine essayistische Reportage, von der es immer mehr geben wird, je künstlicher die Welten sind, in denen wir Autoren unsere Stoffe suchen.
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Auch Deutsche unter den Opfern
Benjamin von Stuckrad-Barre · Reportagebuch · 2010
Keine Reportage, sondern ein Buch voller Reportagen: über eine Lesung von Günter Grass, über Fußballgucken auf der Fanmeile, über die Warteschlange vor dem Reichstag und so weiter. Viel Lesestoff, empfehlenswert und inspirierend aus einem Grund: Stuckrad-Barre macht Kleines groß und Großes klein, erzählt Ernstes unernst und Unernstes ernst und weitet so den Blick. Viele seiner Reportagen könnte man mit dem Label „Stilbruch“ versehen – lässt es dann aber, weil man merkt, dass sie lebensnäher, unmittelbarer, eben reportagiger sind als das, was man so für „stilgerecht“ hält.

Andreas Altmann wurde als Reporter u.a. mit Kisch-Preis ausgezeichnet. Seine Bücher „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ und „Gebrauchsanweisung für die Welt“ waren Bestseller.
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Beschützt bis in den Tod
Dirk Kurbjuweit · Die Zeit · 1998
Der Dirk ist ein Meister. Und seine Geschichte über die Schuld von Menschen – jene, die von der UNO beauftragt waren, die Muslime vor den mordenden Serben in Srebrenica zu schützen – diese Geschichte ist meisterlich erzählt. Und seltsam verwirrt kommt man als Leser an ihr Ende: Weil er sich, ganz unbewusst, einen eindeutigen Schuldigen wünscht. Aber die Verhältnisse sind meist komplizierter als gut oder böse. Sie sind irgendwo mittendrin. Hier kann man es voller Ergriffenheit nachlesen.
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Die Macht aus den Gräbern
Michael Stührenberg · GEO · 1997
Warum diese Story? Weil der Stüri ein Poet ist. Weil viele seiner Sätze wie Lichtadern durch mein Herz ziehen, ja, mein Leben reicher machen in den Augenblicken, in denen ich sie lese. Wie jene da, die von einer Frau reden, die er anbetet, auf dem fernen Madagaskar: „Es ist schwer, sie nicht mit offenem Mund anzustarren. Ihr mächtiger Haarschopf, wolleweich, reicht bis auf die zierlichen Schultern. Die Lippen sind voll, die obere schwungvoll geschnitzt wie jene fernen Vögel, die Kinder ganz zuletzt aufs Bild malen, damit der Himmel nicht so leer bleibt. Momu, die Herrliche! Seit langem sehne ich mich danach, ihr gefällig sein zu dürfen …“
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Der gefährlichste Auftrag der Welt
Von Wolfgang Bauer · Die Zeit · 2011
Wolfgang Bauer traut sich. Und Mohamed Aden, der Präsident von Himan & Heeb, über den Bauer berichtet, traut sich auch. Ob Aden den „gefährlichsten Auftrag der Welt“ hat, kann ich nicht sagen. Aber der Mensch ist mutig, will er doch einen Teil Somalias den Gangstern, den Piraten und Fundamentalisten entreißen. Und der Dürre. Und friedlich stimmen. Und wohlhabend machen. Und Bauer schreibt cool, protzt nicht mit Gefahren, verschont den Leser mit der Geste des heldenhafen Reporters. Der Mann schreibt lakonisch, schwungvoll begabt und ist immer nah, ganz nah.