Unsere Jahresbesten 2019

Es geht bergab
Empfohlen von Margarethe Gallersdörfer
Die beunruhigendste Geschichte, die ich als Jugendliche gelesen hab (warum ist Jugendliteratur eigentlich oft so beunruhigend?) geht so: Eine Stadt baut langsam den Felsen ab, auf dem sie steht. Die ganze Geschichte lang redet ein Mädchen beruhigend auf ihre Großmutter ein, die “Die Grundsteine, die Grundsteine! Sie gehen an die Grundsteine!” jammert. Am Ende halten die beiden sich aneinander fest, während die Stadt langsam ins Meer stürzt.
Hat mich die Reportage aus Brienz deshalb so angesprochen? Oder passt sie einfach nur so gut in das Gefühl, dass viele von uns haben? Die Erde ist uns nicht mehr untertan, und wenn sie sich irgendwann vollends gegen uns wendet, gibt es nur noch wenig Hoffnung. Aber natürlich ist Brienz keine Metapher, sondern ein echtes Dorf, mit echten Menschen darin, die wieder ein banges Weihnachten feiern werden.
Dieser Text erklärt nicht nur verständlich, was dort eigentlich passiert. Er fängt auch in feinen, aber nicht übergriffigen Personenskizzen auf, was es mit Menschen macht, wenn ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wird.
Henning Sußebach (€), Fotos: Joan Minder · Die Zeit

Die letzten großen Ferien
Empfohlen von Robert Hofmann
Ich mag die Jugend nicht. Sie ist zu laut, sie hört komische Musik, lebt zu promiskuitiv und überhaupt: Ich weiß es besser. Anna Mayr nicht. Sie begleitet eine Gruppe Abiturienten und Abiturientinnen auf einer Reise nach Kroatien. Und beschreibt dabei die vielen kleinen und großen Dinge, die die Jugend heute besser macht als, nunja, ich. Und doch schafft Mayr es, nicht nur zu zeigen, was uns von der neuen Generation trennt. Ihr gelingt es gleichzeitig, in bunten Gleichnissen und abgefahrenen Metaphern zu zeigen, dass Jugend immer Jugend ist. Dass es Dinge gibt, die Menschen nach dem Abi quält, egal, wann sie geboren wurden. Ihre Ängste vor der Zukunft und umeinander und gleichzeitig ihre Furchtlosigkeit vor dem, was kommt. Dann sind wir plötzlich nicht anders als diese Leute, die sich da unter der kroatischen Sonne volllaufen lassen.
Anna Mayr, Fotos: Anna Tiessen · ZEIT Campus

Empfohlen von Hannah Knuth
Es gibt wenige Texte, die ich in diesem Jahr so lang im Kopf hatte, wie diesen von Alexandra Rojkov. Sie erzählt die Geschichte einer Zahl: 202499. Der jüdische Künstler Gal Wertman hat sie sich auf den Arm tätowieren lassen, in Andenken an den letzten Häftling von Ausschwitz. Wer das war, will Wertman nicht wissen. Aber Rojkov will. Sie überzeugt ihn, dass sie recherchieren darf. Und findet heraus, dass die Nummer nie einem Ausschwitz-Opfer gehört hat. Sondern einem SS-Mann. Rojkov ist nicht nur Beobachterin – sie mischt sich ein, versteckt das nicht und tastet sich immer näher an die Wahrheit. Und je näher Rojkov dieser Wahrheit kommt, desto härter wird es auch für die Leser. Weil sie Komplize werden in diesem Text. Und sich irgendwann mit Rojkov fragen: Müssen wir ihm das sagen.
Alexandra Rojkov, Fotos: Heather Sten · SZ Magazin

Ja! Jaa! Jaaa!
Empfohlen von Marvin Ku
Zugegeben: Ich bin kein großer Fan von Sportgeschichten. Eigentlich. Spannend wird es, wenn die Athleten nicht jung und muskelbepackt sind. Wenn sie den Startschuss nicht mehr so gut hören, die Laufbahn nicht mehr so gut sehen. So wie die Helden dieser Reportage. Edi, Fred, Herbert und Armin sind zwischen 85 und 89 Jahre alt, „alte Säcke“ nennen sie sich. Nicola Meier begleitete die vier Männer vom Training bis zum Ziel: der Leichtathletik-Europameisterschaft der Senioren in Italien.
Besonders schön ist der Ton der Reportage. Leicht, schrullig, trotzdem liebenswert, wie die vier Herren der Geschichte. Ihr Gegner ist nicht nur die eigene Bestzeit, sondern (auch) das eigene Alter. Das Tollste ist aber das Gefühl nach dem Text. Diese kribbelnde Lust, selbst in die Laufschuhe zu schlüpfen. Und älter zu werden.
Nicola Meier, Fotos: Julia Sellmann · Die Zeit (€)

Empfohlen von Tobias Heimbach
Meist sind es die gleichen Körperteile, die im Zentrum von Reportagen stehen. Fäuste, die zuschlagen. Köpfe, die Entscheidungen treffen. Herzen, die klopfen. Finger, die einen Abzug drücken. In „Der Geruch von Moschus“ ist es eine Nase.
Die Nase von Joy Milne ist sensibler als andere. Früher sog sie damit den Geruch ihres Mannes Leslie ein. Ein starker und männlicher Geruch, den sie mochte. Doch eines Tages roch sie an ihm eine neue, saure Note. Was sie damals nicht wusste: Dieser Geruch war Parkinson – Milne kann die Krankheit riechen. Es dauerte Jahre bis sie selbst und später Wissenschaftler ihr Talent erkannten. Früh genug, um die Medizin zu revolutionieren, doch zu spät für Leslie, der an der Krankheit starb.
Das hier ist eine Superheldinnen-Geschichte. Jemand mit einer besonderen Gabe nutzt seine Fähigkeiten, um Menschen, sogar der ganzen Menschheit, zu helfen. Gleichzeitig passt Protagonistin Joy so gar nicht in das Bild einer Superheldin. Sie ist 69 Jahre alt, hat graue Haare und Falten um die Augen. Genau aus diesem Stoff macht Autor Timofey Neshitov einen berührenden Text, einer der von den Wundern des menschlichen Körpers, von der Kraft der Wissenschaft, von Ohnmacht erzählt. Und in dem ein so unscheinbares Körperteil wie die Nase die Hauptrolle spielt.
Timofey Neshitov, Fotos: Daniel Etter · Der Spiegel (€)

Empfohlen von Niclas Seydack
Kai Kupferschmidt hat Platzangst. Im eigenen Körper. Da wohnt etwas, was – buchstäblich – in jede Zelle seines Körpers eindringt und was er nie wieder loswerden wird: HIV. Er hatte oft über HIV berichtet, aus der Distanz des Wissenschaftsjournalisten, der er ist, – vor der Reise nach Brasilien, vor dem Sex, vor dem geplatzten Kondom, vor der Diagnose. Seitdem teilt sich Kupferschmidt seinen Körper mit einem Virus.
In seinem Text „Negativ und positiv“ führt er in sein Innerstes. Er zeigt uns alles. Seine Angst und seinen Mut. Wie kann es weitergehen, wenn man denkt: Alles ist vorbei? Es geht weiter. Man lernt wieder zu leben und zu lieben, egal, was das Leben mit einem macht. Diese Botschaft, so kalenderspruchartig sie scheinen mag, ist mächtig. Weil sie stimmt. Kupferschmidt berichtet davon. Er schreibt in einer übermenschlich großen Sprache über etwas, was mikroskopisch klein ist – und trotzdem die Macht hat, ein Leben zu atomisieren. Bis man sich traut, es selbst wieder zusammenzusetzen.
Kai Kupferschmidt · Zeit Online

Empfohlen von Lisa McMinn
Else Buschheuer war 23 Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal die Brüste operieren ließ. Kurz darauf platzen die Nähte auf und das Blut färbte ihre weiße Bluse rot. Es folgten Jahre unterm Messer, begleitet von einer Frage, die sie sich immer wieder stellt: Was ist das eigentlich, das Frausein? Will ich das überhaupt – und wenn ja, was hat es mit meinen Brüsten zu tun? Mit 54 Jahren entschied Buschheuer, die Implantate entfernen zu lassen und schrieb begleitend dazu diesen Text.
Man könnte streiten, ob ihr Werk überhaupt eine Reportage ist oder ein Essay, vielleicht sogar ein Stück Autobiografie. Denn es passiert nicht viel. Die Botschaften verstecken sich in Buschheuers Erinnerungen. Sie beschreibt schmerzhaft ehrlich dem Umgang mit sich selbst und beantwortet wie nebenbei eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit: Was hat die Identität mit dem Körper zu tun? Nach der Lektüre weiß man, – und das beruhigt –, dass nicht der Körper den Menschen formt, sondern der Mensch sich selbst.
Else Buschheuer · SZ Magazin

Empfohlen von Matthias Bolsinger
Selbst an guten Tagen kann er nicht mehr viel. Mićo ist 43 und nach drei Schlaganfällen ein Pflegefall. Seit Jahren kümmert sich seine Schwester um ihn. Sonst kommt kaum noch Besuch. Vielleicht, weil die Menschen Angst haben, Mićo so zu sehen: stumm und fast regungslos. Eines Tages überwinden sich seine alten Kumpel und machen sich auf den Weg zu ihm, im Gepäck Ängste und ein schlechtes Gewissen.
Reporterin Katrin Blum begleitet sie, zeichnet ihre Gefühlsschwankungen nach wie ein Seismograph Erschütterungen, sachte, nicht mit Volllast auf der Tränendrüse, und macht daraus eine große Geschichte über Freundschaft. Besonders macht den Text aber etwas anderes. Wer ihn liest, den führt er an einen eigenartig schönen Ort, wo Trauer und Glück sich berühren. Das hat in diesem Jahr keine andere Reportage so ehrlich geschafft.
Katrin Blum, Fotos: Sigrid Reinichs · SZ Magazin

Ganz weit oben
Empfohlen von Marius Buhl
Eigentlich könnte man hier fast jeden Text von Holger Gertz empfehlen. Weil man einen Gertz-Text immer schon nach drei Sätzen erkennt. Weil Gertz-Texte oft nostalgisch sind, aber nie verklärend. Weil sie das Kleine groß machen. Warum also genau dieser?
Vielleicht weil er so ein klassischer Gertz ist. Es geht um das Riesenthema Mondlandung, aber wo andere mit Raketenfeuer einsteigen würden, schreibt Gertz erstmal acht Absätze über längst vergessene ORF-Moderatoren. Nach drei Sätzen weiß man: Klar, ein Gertz. Vielleicht auch dieser, weil Gertz darin folgenden Zaubersatz schreibt: „Über den Mond wird selten schlecht gesprochen, er spielt imagetechnisch in einer Liga mit Dolomiti-Eis, Roger Federer und Queen Elizabeth, allesamt Erscheinungen, die auch schon sehr lange da sind.“ Nostalgisch, nicht verklärend.
Oder es ist dieser Text geworden, weil Gertz darin anhand von Zuschauerfragen zur Mondlandung die späten 60er Jahre auferstehen lässt. Das Kleine groß machen. Was also kann Gertz letztendlich besser als andere? Ein Kollege sagte es neulich so: „Es geht um Haltung. Andere sind eklig eitel. Gertz ist aus Bremen.“
Holger Gertz · Süddeutsche Zeitung Online
Katrin Blum, Nicola Meier und Else Buschheuer wurden im Dezember 2019 für ihre Reportagen mit dem Reporterpreis ausgezeichnet. Ihre Geschichten und die anderen Sieger-Texte können sie kostenlos in diesem Reader nachlesen.